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Gericht: Oberlandesgericht Frankfurt
Beschluss verkündet am 10.01.2008
Aktenzeichen: 2 Ss 383/07
Rechtsgebiete: StPO, MRK


Vorschriften:

StPO § 140 Abs. 2
StPO § 201
MRK Art. 6 Abs. 3 a
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gründe:

Das Amtsgericht Gießen hat den Angeklagten mit Urteil vom 12. September 2007 wegen Betruges in Tateinheit Urkundenfälschung zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.

Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit der form - und fristgerecht eingelegten und ebenso begründeten Sprungrevision. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts.

Die Revision hat auch in der Sache Erfolg. Die ordnungsgemäß ausgeführte Verfahrensrüge der Verletzung des § 338 Nr. 5 StPO in Verbindung mit § 140 Abs. 2 StPO greift durch und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Die Staatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht hat in ihrer Stellungnahme vom 03. Januar 2008 dazu folgendes ausgeführt:

"Zwar ist einem Angeklagten nicht allein deshalb ein Pflichtverteidiger beizuordnen, weil er die deutsche Sprache nicht beherrscht.

Bestehen beim Angeklagten sprachbedingte Verständigungsschwierigkeiten, so kann dies allerdings dazu führen, dass die Bestellung eines Verteidigers unter dem Gesichtspunkt der Schwierigkeit des Sach- oder Rechtslage eher geboten sein kann, als dies sonst der Fall ist (BVerfGE 64, 135 m.w.N.; BGH StV 2001, 1).

Einem der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtigen - ausländischen - Angeklagten ist danach jedenfalls dann ein Verteidiger beizuordnen, wenn seine auf den sprachlichen Defiziten beruhende Behinderungen der Verteidigungsmöglichkeiten durch die - hier erfolgte - Hinzuziehung eines Dolmetschers in der Hauptverhandlung nicht völlig ausgeglichen werden kann. Dies ist regelmäßig anzunehmen bei komplexen Geschehen, die nur durch Zeugenvernehmungen aufgeklärt werden können und bei denen es wesentlich auch auf die Glaubhaftigkeit der Aussagen und die Glaubwürdigkeit der Zeugen ankommt. In solchen Fällen kann nämlich der Angeklagte mit Hilfe des Dolmetschers im wesentlichen nur seine Verteidigungsposition verdeutlichen, nicht aber - was zunächst auch nur durch gründliches Studium der Akten erzielte Kenntnisse voraussetzt - die Aussagen der Zeugen kritisch hinterfragen, etwaige Widersprüche aufzuzeigen oder - gegebenenfalls durch Beweisanträge - deren Glaubwürdigkeit erschüttern (OLG Frankfurt/M. StV 1997, 573).

Bereits nach diesen Grundsätzen hätte dem Angeklagten, der in der Hauptverhandlung nicht anwaltlich vertreten war und der sich zur Sache auch nicht eingelassen hat, ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen. Denn aus den Urteilsgründen, die auf die erhobene Sachrüge herangezogen werden können, ergibt sich, dass die Verurteilung des Angeklagten im wesentlichen von der Aussage einer einzigen Belastungszeugin, der Zeugin Z1, abhing, nachdem die weitere Zeugin Z2 nur das bekunden konnte, was sie zuvor von der Zeugin Z1 erfahren hatte.

In einem derartigen Fall ist die Aussage der einzigen Belastungszeugin besonders kritisch zu hinterfragen (ständige Rechtsprechung, vgl. BGH StV 1998, 250; NStZ 2000, 496; 2001, 161; OLG Frankfurt/M., Beschluss vom 22.05.2001 - 2 Ss 121/01 -; Beschluss vom 19.12.2001 - 2 Ss 362/01 -; Beschluss vom 16.06.2003 - 3 Ss 175/03 - = NZV 2004, 158; Beschluss vom 25.08.2003 - 3 Ss 269/03 -; Beschluss vom 26.04.2006 - 1 Ss 344/ 05 -; Beschluss vom 29.08.2006 - 1 Ss 348/05 -; Beschluss vom 27.02.2007 - 1 Ss 286/06 -; Beschluss vom 02.05.2007 - 1 Ss 365/06 -), was lediglich einem Pflichtverteidiger aufgrund dessen Aktenkenntnis möglich gewesen wäre. Schon dies hätte m.E. die Beiordnung eines Pflichtverteidigers erforderlich gemacht.

Die Bestellung eines Pflichtverteidigers wäre zudem auch noch unter einem weiteren Gesichtspunkt geboten gewesen.

Denn nach einhellig in Rechtsprechung und Schrifttum vertretener Ansicht hat der Angeschuldigte gemäß § 201 StPO i.V.m. Art. 6 Abs. 3 a MRK einen Rechtsanspruch auf Bekanntgabe der Anklageschrift mit einer Übersetzung in einer ihm verständlichen Sprache (KG StV 1994, 90; Brandenburgisches OLG StV 2000, 69 f.; OLG Düsseldorf StV 2001, 498; OLG Hamm StV 2004, 364; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl., Art. 6 MRK RN 18 m.w.N.).

Die Mitteilung der Anklageschrift in einer ihm verständlichen Sprache sichert nicht nur den Anspruch des sprachunkundigen Angeklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs im Zwischenverfahren. Sie gewährleistet darüber hinaus auch, dass er - frühzeitig - von dem Anklagevorwurf der Staatsanwaltschaft Kenntnis erhält und seine Verteidigung daher auf den konkreten Tatvorwurf und die Beweislage einrichten kann. Die vollständige und frühzeitige Informationen über den Anklagevorwurf und die Beweislage dient der Herstellung von "Waffengleichheit" zwischen der Staatsanwaltschaft einerseits und dem Angeschuldigten andererseits und ist für ein rechtsstaatliches und faires Strafverfahren essentiell und daher auch in sachlich oder rechtlich einfach gelagerten Fällen unerlässlich (OLG Karlsruhe StV 2005, 655 m.w.N.).

Unterbleibt die gebotene Mitteilung der Anklageschrift in einer dem Angeschuldigten verständlichen Sprache, so kann dieser im Zwischenverfahren geschehene - schwere - Verfahrensfehler im weiteren Verfahren insbesondere durch die Beiordnung eines Pflichtverteidigers ausgeglichen werden (vgl. Beschluss des 3. Strafsenats des OLG Karlsruhe vom 17.10.2002, StV 2002, 299). Die mündliche Übersetzung der Anklageschrift in der Hauptverhandlung genügt hierfür regelmäßig nicht (OLG Karlsruhe, a.a.O.; OLG Hamm StV 2004, 364; a.A. OLG Hamburg StV 1994, 65; OLG Düsseldorf NJW 2003, 2766).

Auch unter Berücksichtigung dieser Anforderungen der Rechtsprechung wäre eine Beiordnung eines Pflichtverteidigers nach § 140 Abs. 2 StPO wegen Schwierigkeit des Sach- und Rechtslage erforderlich gewesen, nachdem der mandatierte Wahlverteidiger zur Hauptverhandlung nicht erschienen war. Denn eine übersetzte Fassung der Anklageschrift ist, wie die Revision zu Recht rügt, dem Angeklagten vor der Hauptverhandlung nicht übermittelt worden (vgl. Bl. 284, 285, 291). Es ist deshalb zu seinen Gunsten und da gegenteilige Erkenntnisse jedenfalls nicht vorliegen, davon auszugehen, dass der Angeklagte erst in der Hauptverhandlung Kenntnis von den näheren Beweisumständen des gegen ihn erhobenen Vorwurfs erhalten hat. Bei dieser Sachlage war dem Angeklagten ohne Rechtsbeistand aber eine wirksame Verteidigung nicht möglich (OLG Karlsruhe StV 2002, 299).

Das Amtsgericht hätte dem Angeklagten, nachdem sein Wahlverteidiger zur Hauptverhandlung nicht erschienen war, deshalb von Amts wegen einen Pflichtverteidiger beiordnen müssen. Das erfolgte Unterlassen einer solchen Beiordnung begründet den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO.

Dem schließt sich der Senat an. Eines Eingehens auf die über die Verfahrensrüge hinaus erhobenen Sachrüge bedarf es unter diesen Umständen nicht mehr.

Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und die Sache gemäß § 354 Abs. 2 S. 1 StPO an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Gießen zurückzuverweisen.

Ende der Entscheidung

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